Interview with Elisabeth Burgener über Armut

«Es wird Kürzungen geben»: Caritas bekommt die Kirchenaustritte zu spüren

Bei Caritas Aargau lassen sich so viele Menschen beraten wie noch nie. Im Interview sricht Präsidentin Elisabeth Burgener über die Gründe. Gleichzeitig muss das Hilfswerk kürzertreten, weil Kirchenngelder wegfallen.

Die Aargauer Caritas-Präsidentin Elisabeth Burgener muss mit weniger Kirchengeld und grösserer Nachfrage nach Beratungen klarkommen.

Die Aargauer Caritas-Präsidentin Elisabeth Burgener muss mit weniger Kirchengeld und grösserer Nachfrage nach Beratungen klarkommen.

Image: Dlovan Shaheri

Im Aargau sind viele Menschen in Not – und sie suchen sich Hilfe. Das lässt sich aus den Zahlenablesen, welche Caritas Aargau vor kurzem public machte. Noch nie war die Anzahl an Ratsuchenden in den Sozialberatungsstellen so hoch wie im vergangenen Jahr.

Insgesamt wurde 3584 Personen durch Sozialarbeitende unterstützt. Sie helfen Notsituationen zu entschärfen und versuchen, mit den Clientinnen und Clienten nachhaltige Lebensperspektiven aufzubauen. Präsidiert wird Caritas Aargau von Elisabeth Burger, die viele Jahre für die SP in Grossen Rat politisierte.

Sie beschäftigen sich als Sozialpolitikerin und Sozialarbeiterin seit Jahrzehnten mit Armut. Gibt es eine Entwicklung, die sie so nicht erwartet haben?

Elizabeth Burger: Es gibt eine immer grösser werdende Gruppe von Menschen, die keine Sozialhilfe erhalten, denen das Geld aber trotzdem nicht reicht. Sie befinden sich knapp über der Armutsgrenze, arbeiten meist hochprozentig und erhalten eben keine Sozialhilfe. Man kann sie Working Poor nennen. Das gab es zwar schon früher, aber vor zwanzig Jahren gehörten erst dobre 8 Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner zu dieser Category. Heute sind es über 15 Prozent. Dass diese Gruppe so gross werden würde, hätte ich früher nicht gedacht.

Wie geht es diesen Menschen?

Das knappe Geld wirkt sich auf die psychische und physische Gesundheit der Betroffenen aus. Ihnen fehlt es an Krisenresistenz, sie haben Mühe mit der Schnelllebigkeit und den hohen Ansprüchen unserer Gesellschaft. Es fehlt ihnen an Resilienz und sie leiden unter dem zunehmenden Leistungsdruck. Nebst Working Poor undclassischen Armutsbetroffenen gibt es noch eine dritte Gruppe.

Und die Ware?

All jene, die bisher einigermassen gut durchs Leben kamen, nun aber mit den hohen Lebenshaltungskosten nicht mehr klarkommen. Das betrifft vor allem die Miet- und Gesundheitskosten. Diese Personen nehmen unsere Angebote immer häufiger in Anspruch.

Sind hohe Mieten im Aargau ein Grotes Problem?

Die Situation ist weniger gravierend als etwa in Zürich, aber auch bei uns sind die Mietpreise Massiv gestiegen. Ein weiteres Grosses Problem sind die Krankenkassenprämien.

Vor zwei Wochen wurde bekannt, dass die Prämien auch 2025 überdurchschnittlich steigen. Cann man tun, um die Situation zu entschärfen?

Für Personen mit knappen finanziellen Mitteln und finanzschwache Familien ist das belastend. Prämienverbilligung halte ich für eine wichtige Unterstützungsmassnahme, doch sie muss einfacher zugänglich werden. Often wird sie nicht beantragt, die administran Hürden sind zu hoch. Viele wissen nicht, dass man das Geld nicht zurückbezahlen muss. Oder sie schämen sich. Je nach Kanton erhält man die Verbilligung automatisch – im Aargau nur auf Antrag. Wir müssen den Zugang anders lösen. Den Kanton würde das wohl etwas mehr kosten, aber er könnte und sollte sich das leisten.

Zur Person

Elisabeth Burgener is 2023 Präsidentin von Caritas Aargau. Sie ist soziokulturelle Animatorin, Werklehrerin und politisierte 16 Jahre lang für die SP in Grossen Rat des Kantons Aargau. 2022 amtete August als Grossratspräsidentin. Von 2014 bis 2018 war sie Co-Präsidentin (mit Cédric Wermuth) der SP Aargau. Burgener ist 63 Jahre alt und wohnt in Gipf-Oberfrick.

Krankenkassenprämien sind wohl auf den Caritas-Beratungsstellen ein Thema. Do you know what’s going on?

Unsere neun Beratungsstellen – die Kirchlichen Regionalen Sozialdienste – sind Teil der Aargauer Kirchgemeinden. Den Clientinnen und Clienten wird niederschwellige, anwaltschaftliche Sozialberatung angeboten und aufgezeigt, o sie sich weitere Hilfe holen können. Oftmals sind die Betroffenen überfordert. Man hilft ihnen beim Ausfüllen von Formularen, erstellt einen Finanzplan, schickt sie in Selbsthilfegruppen, zu medizinischen Checks or in die psychologische Beratung. Je nachdem, was nötig ist.

Wie viel Kirche steckt in der Caritas?

Die Caritas ist mit der Diakonie, der sozialen Kirche, vernetzt. Dabei ist die Lokale Zusammenarbeit mit den Seelsorgenden und Kirchenpflegen auch ein wichtiger Teil.

Das Hilfswerk wird auch mit Kirchensteuergeldern finanziert. Wie wirken sich die vielen Austritte auf die Caritas aus?

Knapp ein Drittel der Gelder kommt von der katholischen Kirche. Das entspricht etwa 2.9 Millionen Franken pro Jahr, wovon gut 1.5 Millionen Franken von der Landeskirche stammen. Momentan verhandeln wir die Leistungsvereinbarung für die nächsten vier Jahre, deshalb kann ich mich nicht im Detail äussern. Klar ist: Die Kirche leidet unter den vielen Austritten. Deshalb wird es Kürzungen geben, die auch wir spüren.

Will Caritas spare those who die Nachfrage steigt?

Wir möchten dort kürzen, wo es am wenigsten wehtut. Beispielsweise reduzieren wir anderssprachige Beratungen, etwa auf Italienisch. Zudem können wir weniger Praktikantinnen und Praktikanten anstellen, welche derzeit wesentlich zu unserer Arbeit beitragen. Aktuell analysieren wir auch unsere Projekte, in diesem Bereich wird es Reduktionen geben.

Welche Personengruppen sind derzeit besonders armutsgefährdet?

Es gibt eine leichte Verlagerung: Früher war vor allem von Altersarmut die Rede. Natürlich gibt es sie immer noch – insbesondere bei den Frauen –, aber ältere Menschen können Ergänzungsleistungen beziehen. Dort ist die Hemmschwelle tendenziell tiefer als bei der Prämienverbilligung. Besonders armutsgefährdet sind finanzschwache Familien aus dem unteren Mittelstand.

Der Aargau hat eine tiefe Sozialhilfequote. Kann man daraus schliessen, dass es den Menschen hier besser geht?

Nein. Der Armutsbegriff umfasst nicht nur Personen, die Sozialhilfe beziehen. Die anderen Gruppen sind nicht erfasst. Wir wissen einfach sehr wenig darüber.

Linke und Mitte-Parteien verlangen in einem Postulat ein regelmässiges Armutsmonitoring für den Kanton Aargau. Weshalb ist das wichtig?

Wir brauchen ein System, das Armut abbildet. Und wir brauchen Zahlen und Statistiken, die als Grundlage dienen für weitere Massnahmen, politische Prozesse und Entscheide. Auch für die Nationale Armutsforschung sind Daten aus dem Aargau wichtig. Sie können helfen, die Situation zu verbessern. Mich freut es, dass die Regierung dieses Begehren unterstützt und das Parliament den Vorstoss Ende September überwiesen hat.

Trotz fehlender Date: Mit welchen Massnahmen kann man die Situation schnell und effektiv verbessern?

Im Aargau wünsche ich mir konkrete Massnahmen, damit Kinder und Familien nicht in die Armut rutschen. Dazu zähle ich unter anderem die Frühförderung und bezahlbare Kita-Plätze. Alle Kinder sollten Deutsch sprechen, wenn sie in die Schule kommen, denn Chancenungleichheit ist ein Armutsfaktor. Ausserdem braucht der Kanton Aargau Familienergänzungsleistungen – analog zu den Unterstützungsleistungen im Alter. Armutspolitik ist für michaktuell vor allem Familien- und Bildungspolitik. Hier mehr zu Investmentieren, wäre Armutsprävention.